Mystik

Der Begriff “Mystik” stammt aus dem Griechischen und stammt vom alten Wort “myppein” ab, das ursprünglich aus der Optik stammt und so viel bedeutet wie “blinzeln”. Von einem Blinzeln spricht man hier deshalb, weil das bekannte spirituelle Phänomen der Mystik ein Wahrnehmungsphänomen der menschlichen Psyche ist, das als Sondererleben eng mit der religiösen Erfahrung als solcher und dem menschlichen Bewusstsein im Allgemeinen verbunden ist. Mystik gibt es in allen Religionen, im Hinduismus, im Buddhismus, im Islam, im Judentum, im Christentum und in anderen Glaubensgemeinschaften; sie wird gemeinhin als eine Art religiöser und spiritueller Erfahrung verstanden. Meist geht es in der Mystik darum, eine Einheit mit Gott herzustellen – die so genannte „unio mystica“, die mystische Einheit – und darüber zu berichten, oft in Form von Bildern und Visionen oder von Gedichten. Menschen, die sich der Mystik widmen, nannte und nennt man Mystiker; es sind viele Mystiker seit mehr als zweitausend Jahren namentlich bekannt. Manche Mystiker sprechen statt von „Gott“ auch vom „Seinsgrund“, vom „Seelengrund“ oder vom „Weltengrund“. Zentralgedanke jeder Mystik ist es, dass Gott nicht außerhalb des Menschen sei, sondern immer schon in ihm und für ihn erfahrbar durch Meditation, Gebet, Visionen und Askese. Wissenschaftlich gesehen ist es jedoch umstritten, ob Mystik ein Inhalt ist oder eine Perspektive; für das Inhaltliche der Mystik spricht ein Kern an inhaltlichen Grundgedanken, der allen Mystikern zu Eigen sei, und eine bestimmte Sprache und Begrifflichkeit. Der berühmte Gelehrte Gershom Scholem spricht sich jedoch dafür aus, dass es keine Mystik an sich gäbe, sondern nur Mystik von etwas, wie Mystik des Christentums, des Judentums, des Islams usw., denn die Mystik sei perspektivisch und stelle die Dinge in ein bestimmtes Licht.

Es gibt, wissenschaftlich betrachtet, zwei Ebenen der Mystik: die so genannte Mystologie und die Mystagogie. Unter der Mystologie versteht man in der Literaturwissenschaft das Sprechen über Mystik und über die mystische Erfahrung als solche, meist in Form von sprachlichen Bildern oder Visionen. Unter dem Begriff „Mystologie“ fasst man also auch die bekannten Schriftwerke der mystischen Schriftsteller zusammen, die uns ihre Erfahrungen schriftlich hinterlassen haben, wie Johannes vom Kreuz, Meister Eckhart, Joachim von Fiore, Theresa von Avila, Hildegard von Bingen und viele andere. Deren Bücher, die schon seit Jahrhunderten Klassiker der so genannten Erbauungsliteratur geworden sind, heißen mystologische Bücher, weil darin oft sehr emotional von der mystischen Erfahrung des Eins-Seins mit Gott gesprochen wird. Typisch für die Mystologie sind auch bestimmte Gemeinplätze (so genannte topoi) wie das Seelenleben, die Geburt Gottes im Seelengrund, Gott als mystischer Bräutigam und die menschliche Seele als Braut, die Erkenntnis Gottes als heilige/mystische Hochzeit und viele andere sprachliche Bilder, die immer wieder bei verschiedenen Mystikern auftauchen.

Im Gegensatz zur Mystologie stehen so genannte mystagogische Bücher. Mystagogisch bedeutet, dass hier ein genauer Weg zu Gott beschrieben wird, oft in mehreren präzise definierten Stufen oder Etappen, die logisch aufeinander aufbauen, wie eine Art Rezept. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das „Itinerarium“ (Buch vom rechten Weg) des Abtes Bonaventura, oder das weltbekannte Buch „Imitatio Christi/ Christus-Nachfolge“ von Thomas a Kempis. Diese Bücher sind mystagogisch, weil es hier weniger darum geht, eine Einzelerfahrung oder Vision anschaulich und poetisch zu beschreiben, sondern eine Art Reiseroute festzulegen oder einen Plan, dem man folgen soll, um gezielt Erkenntnisse zu bewirken. Mystagogische Literatur ist also zweckmäßiger und pragmatischer als mystologische Literatur, die eher gefühlsbetont ist. Oft sind die Grenzen jedoch fließend.


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